Höhere Fachschule für Sozialpädagogik

Janusz Korczak als Pionier der Traumapädagogik?

Janusz Korczak beschreibt in seiner Kindergeschichte Wladek (bzw. «Ruhm») das Schicksal eines polnischen Jungen, der mit seiner Familie in bitterer Armut lebt und in Resignation zu versinken droht. Er setzt sich aber dennoch ein hohes Ziel und kämpft sich durch alle Schwierigkeiten hindurch.

Datum
30. Juni 2021

Das Leben «trotzdem» meistern

Dieser Beitrag geht der Frage nach, was wohl dazu geführt hat, dass es Wladek gelingt, trotz schwierigster Vorausset-zungen sein Leben zu meistern. Die Antwort könnte kurz zusammengefasst lauten:

  • Die Freundschaft mit Olek, mit dem er sein Schicksal teilt
  • Bücher, die ihm den Zugang zu anderen Welten eröffnen
  • Die Gruppe von Gleichaltrigen, die sich selbst organisiert und sich für andere engagiert
  • Die Gemeinschaft der Familie, die ihm einen haltgebenden, sicheren Ort vermittelt
  • Das hohe Ziel, das er sich zu stecken wagt
  • Die unkonventionelle Unterstützung durch Erwachsene, die ihn ernst nehmen
  • Die vielen positiven Lebenshaltungen von Wladek selber

Diese Punkte verweisen auf Grundelemente der Pädagogik Korczaks und sind von hoher Relevanz für die Traumapädagogik.

Janusz Korczak und die Traumapädagogik

Seit rund 20 Jahren hat sich v.a. im deutschsprachigen Bereich die Traumapädagogik entwickelt, eine pädagogische Bewegung mit dem Ziel, Konzepte zur pädagogischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit belastenden Lebenserfahrungen zu erarbeiten. Dazu werden Theorien und Forschungsergebnisse aus verschiedensten Wissenschaftsbereichen zusammengeführt , aber auch Konzepte und Erfahrungswissen aus der Geschichte und Gegenwart der Sozialpädagogik. Dabei wird auch Janusz Korczak (1878 – 1942) zu den «hervorragenden pädagogischen Traditionen» gezählt, auf welche die Traumapädagogik zurückgreifen kann, ohne dies aber genauer auszuführen. Der vorliegende Beitrag zeigt diesen Bezug zwischen Korczak und der Traumapädagogik konkreter auf.

Eine Pädagogik aus der Praxis entwickelt

Die Pädagogik Korczaks ist aus traumapädagogischer Sicht auch deshalb interessant, weil Korczak, als Leiter des Waisenhauses Dom Sierot und Co-Leiter des Nasz Dom in Warschau, mit Kindern gearbeitet hat, die heute als traumatisiert bezeichnet würden: «Ins Waisenhaus kamen Kinder aus dem Dschungel des Lebens, aus den Armenvierteln, der Prostitution, der Erniedrigung und der Härte. Diese Kinder brachten Ängste und Furcht mit sich, Gewohnheiten des Selbstschutzes vor Erwachsenen, Misstrauen gegenüber der Welt, Argwohn und eine Werteskala, die auf gerissenem Neid und Betrug basierte». Die Pädagogik Korczaks muss also nicht erst auf den Bereich der Traumapädagogik «umgeschrieben» werden: Korczak hat seine Pädagogik von Beginn weg mit traumatisierten Kindern entwickelt. Dies in enger Zusammenarbeit mit Stefania Wilczyńska, mit der er das Dom Sierot geleitet hat, und Maryna Falska, der Leiterin des Nasz Dom.

Korczak als Autor von Kindergeschichten

Neben seiner Tätigkeit als Kinderarzt und Waisenhaus-Leiter (und vielen anderen Auf-gaben) hat Korczak Geschichten für Kinder und Jugendliche geschrieben. Diese bilden einen wesentlichen Teil seiner «erzählenden Pädagogik», in der er zum Ausdruck bringt, was Kinder zu einem gelingenden Leben verhilft. Korczaks Kindergeschichten sind daher immer auch an die Erwachsenen gerichtet. Es geht darin fast ausnahmslos um Kinder und Jugendliche, die mit schwierigen Lebensumständen zu kämpfen haben. Damit macht er Kindern und Jugendlichen « …Mut zum Leben, zum Lernen trotz äusserer Schwierigkeiten». Er will « … Kindern helfen, sich selbst zu verwirklichen, Verantwortung zu übernehmen und das eigene Leben selbständig zu gestalten». Feinfühlig und unaufdringlich zeigt er dabei, « … wie Kinder ihr Leben meistern und worauf es dabei ankommt.» «Wladek» ist eine dieser Geschichten:

Wladek - eine Geschichte aus der Realität

Die Geschichte spielt um 1912 in Warschau. Wladek ist der älteste Bruder von fünf Geschwistern einer Unterschichts-Familie in Warschau. Er lernt zusammen mit seiner Familie die Armut in ihrer ganzen Brutalität kennen: Der Vater wird arbeitslos, ohne irgendwelche soziale Unterstützung. Die Familie muss in eine armselige Wohnung in einen ganz anderen Stadtteil umziehen. Wladek verliert dabei alle seine Freunde. Die Schule darf er nicht mehr besuchen, weil die Eltern das erforderliche Schulgeld nicht mehr bezahlen können. Er verfällt in Langeweile und Resignation. Die Kinder werden schwer krank, zwei seiner geliebten Geschwister sterben. Trotz all dem: Mitten in dieser bedrückenden Situation steckt er sich das Ziel, ein berühmter Arzt zu werden. In diesem «Kampf nach oben» scheitert er vorerst kläglich, indem er (u.a.) eine entscheidende Prüfung nicht besteht. Am Schluss der Geschichte erreicht Wladek sein Ziel zwar nicht ganz, wird aber ein «berühmter» Krankenpfleger. Wie hat er das geschafft? Im folgenden werden Antworten auf diese Frage gesucht und Bezüge zur Pädagogik Korczaks und zur Traumapädagogik hergestellt.

Olek – die Kraft der Freundschaft

Wie aus dem Nichts taucht eines Tages Olek auf, ein etwa gleichaltriger Junge aus ebenso schwierigen sozialen Verhältnissen. Wladek und Olek werden Freunde für’s Leben. Ohne die Freundschaft mit Olek ist Wladeks Weg nach oben undenkbar: Die beiden Jungen ermutigen sich gegenseitig, lernen voneinander, stehen einander in allen Schwierigkeiten bei. Olek ist es auch, der Wladek in die Welt der Bücher einweiht. Olek ist der mutigere der beiden. Seine forsche Art ist Wladek zwar manchmal peinlich, aber hilft ihm, aus seiner Lethargie zu erwachen und Schritte zu wagen, die entscheidend sind für das Gelingen des Lebensweges, den sie sich vorgenommen haben. Gerade in Momenten der Resignation macht ihm sein Freund Olek Mut – mit Worten, die ein Freund (aber nie ein Pädagoge!) so aussprechen darf: «Heule nicht, du Dummkopf, alle berühmten Leute waren mal unglücklich!» (S. 275). «,Kopf hoch, Brust raus, ein kurzes Gebet – und marsch, mit Mut!’ Um nichts in der Welt wäre Wladek allein hineingegangen». Korczak zeigt auf eindrückliche Weise den Wert und die Kraft auf, die in einer Kinder- und Jugendfreundschaft liegen können.

Bezug zur Pädagogik Korczaks

Die Pädagogik Korczaks ist zwar eine ausgesprochen «soziale» Pädagogik –  sie geschieht immer in und zur Gemeinschaft, und vollzieht sich in Beziehungen zwischen allen Beteiligten. Trotzdem thematisiert Korczak das Thema «Freundschaft» in seinen pädagogischen Schriften nur marginal. Das könnte damit zusammenhängen, dass ihm zwar bewusst ist, dass eine gute Freundschaft wichtig, oft gar «überlebenswichtig» ist, aber pädagogisch nicht geplant und organisiert werden kann. Dies im Gegensatz zu den im Dom Sierot und Nasz Dom entwickelten Formen des gemeinschaftlichen Lebens.

Vielleicht die einzige Form einer organisierten Zweier-Kameradschaftsbeziehung findet sich im Mentor-System, das im Dom Sierot und Nasz Dom praktiziert wurde: ältere, erfahrenere Jugendliche übernehmen Verantwortung für jüngere, neu ins Waisenhaus Eingetretene. Daraus haben sich immer wieder Freundschaften entwickelt.

Freundschaft gibt Halt

In den Erzählungen Korczaks spielen Freundschaften hingegen eine wichtige Rolle. In den meisten seiner Kindergeschichten stellt Korczak seinen Protagonisten einen Freund bzw. eine Freundin zur Seite. So z.Bsp. auch in Ein hartnäckiger Junge; das Leben des Louis Pasteur (mit vielen Parallelen zu Wladek!). Dazu Korczak:  «Jules war Louis’ bester Freund. Ein Freund hilft. Er gibt gute Ratschläge und bringt einem etwas bei; man kann mit ihm lustige und ernsthafte Gespräche führen (…). Es ist wichtig, sehr wichtig, was für Freunde ein Junge hat.» Anderseits kommt das Alleinsein, das Leben ohne Freunde, einfühlsam und eindrücklich in Esthers Geheimnis oder in Kaitus der Zauberer zum Ausdruck.

Welcher Bezug hat Freundschaft zur Traumapädagogik?

Eine Kernerfahrung im und nach dem Trauma, v.a. wenn dieses von Menschen zugefügt wird, ist  Einsamkeit: sich verlassen fühlen von allen «guten Menschen», bis hin zur Überzeugung, dass es gar keine «guten Menschen» gibt.  Deshalb ist es für traumatisierte Kinder und Jugendliche fundamental wichtig zu erleben, dass es doch auch Menschen gibt, die zu ihnen stehen – «komplexe Freundschaftsbeziehungen» gehören somit zu den wirkungsvollsten Faktoren, um eine Traumatisierung zu überwinden. Peers haben zudem oft einen unmittelbareren und natürlicheren Zugang zu ihren Kameraden als wir Erwachsene. Freunde und Freundinnen können daher zu einer wichtigen Ressource in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen werden.

Beziehungen in der Traumapädagogik

Die Arbeit an Beziehungen zwischen allen Beteiligten ist in der Traumapädagogik gut etabliert. Freundschaften zwischen Kindern und Jugendlichen sind in den gruppenpädagogischen Konzepten wohl oft «mitgemeint», aber selten explizit thematisiert. Das dürfte auch hier damit zusammenhängen, dass sich Freundschaften pädagogisch nicht  «machen» lassen. Dennoch könnte es sich lohnen, dem Thema «Freundschaft“ ein besonderes Augenmerk zu schenken. Aus den Schriften Korczaks lässt sich ableiten:

  • Grundsätzlich Freundschaften als etwas «Heiliges» betrachten, das wir achten, schätzen und schützen.
  • Freiräume, Aktivitäten und Orte anbieten, in denen sich Freundschaften entwickeln und festigen können, zu Peers innerhalb und ausserhalb der Institution.
  • Kompetenzen aufbauen, die für das Entstehen und die Pflege von Freundschaft wichtig sind (Empathie, konstruktives Streiten, Verzeihen und Versöhnen…).
  • Das Thema Freundschaft thematisieren, im Einzel- und Gruppensetting; Bsp. anlässlich von Resilienzstunden oder thematischen Gruppenarbeiten.
  • Arbeit mit Büchern und Filmen zum Thema Freundschaft.

Die Leihbibliothek – die Kraft der Bücher

Olek ist ein wahrer Büchernarr. Schon bei der ersten Begegnung mit Wladek übergibt er diesem einige Bücher und weiht ihn später in die Leihbibliothek ein. Die Bücher bekommen für Wladek eine fundamentale Bedeutung. Er liest Fachbücher, Biografien, Romane, Abenteuergeschichten, Reiseberichte, Gedichte – alle erweitern sie seinen Lebenshorizont, eröffnen neue Welten. Sie helfen ihm, über seine triste Lebenssituation hinauszublicken und Perspektiven für sein Leben zu entwickeln. Aus den Büchern schöpft er Hoffnung, Kraft und Motivation, um aus dem «Gefängnis» seiner bedrückenden Lebenslage auszubrechen und etwas aus seinem Leben zu machen.

Welchen Bezug habe Bücher zur Pädagogik Korczaks?  

Geschichten und Bücher sind aus dem Leben und der Pädagogik Korczaks nicht wegzudenken. «Ein Erzieher taugt nicht viel, wenn er nicht erzählen kann». Schon als Jugendlicher schreibt er, dass er ohne Bücher nicht leben könne und setzt sich schon bald für den Aufbau von Leihbibliotheken ein. Zeitlebens schreibt er Geschichten und Bücher, die er stets auch den Kindern vorliest oder zum Lesen gibt. Zur Bedeutung, die er dem Buch beimisst:  «Ohne Buch ist das Kind nicht fähig, zu verstehen und sich mit sich selbst zu verständigen. Hierher gehören auch der Roman mit seinen Helden und die Gedichtsammlung. Hier kann es vor der grauen Alltäglichkeit des Lebens fliehen.» Allerdings geht es ihm um weit mehr, nämlich darum, zum Selberdenken und zur Eigenaktivität anzuregen:«Immer, wenn du ein Buch aus der Hand legst und beginnst, den Faden eigener Gedanken zu spinnen, hat das Buch sein angestrebtes Ziel erreicht.» So spricht M. Kirchner in seinem Beitrag über Korczaks Kinder- und Jugendliteratur, im Sinne Korczaks, vom «Recht des Kindes auf gute Bücher».

Welchen Bezug haben Geschichten zur Traumapädagogik?

Dieses Anteilnehmen an den Erfahrungen der Kameradinnen und Kameraden, die «ebenso schwierige Zeiten durchgemacht und blöde Situationen erlebt haben», wird in der Traumapädagogik gezielt gefördert. Das Wissen, dass man nicht allein ist mit diesen –  meist auch demütigenden! –  Erlebnissen, wirkt befreiend und entlastend. Von Korczak können wir lernen, dass Bücher dabei eine grosse Hilfe sein können. Das Kind, der Jugendliche muss dies aber selbst entdecken – wir können ihm bloss wertvolle Geschichten und Bücher zugänglich machen. Gerade solche, die den tristen Lebenshorizont erweitern, die Mut machen trotz aller Schwierigkeiten Verantwortung zu übernehmen, und die aufzeigen, worauf es ankommt, damit das Leben gelingt. Dabei können neben dem «normalen Lesen» durch die Kinder und Jugendlichen auch andere Formen des Zugangs zum Buch gewählt werden: gegenseitiges Vorlesen, Umsetzung in theaterpädagogischen oder medialen Projekten, Diskussion einzelner Passagen (wie es auch Korczak oft praktiziert hat). Oder ein ganz einfacher Impuls für die Traumapädagogik: Den Kindern Wladek oder andere Geschichten von Korczak vorlesen….

«Die Ritter der Ehre» – die Kraft der Selbstverantwortung

Wladek gründet zusammen mit einigen Kamerad_innen eine verschworene Gemeinschaft: «Die Ritter der Ehre».  Sie geben sich selber die Regeln und legen fest, wofür sie sich einsetzen wollen: für Gerechtigkeit, Hilfsbedürftige, Friedfertigkeit, Sauberkeit im Wohnquartier, oder für Kinder, die von den Eltern geschlagen werden. Die Parole lautet: «Ruhm» (Originaltitel der Wladek-Geschichte). Sie führen ein Theaterstück auf, mit dessen Erlös sie für die gehörlose Michalinka einen Wintermantel kaufen, « …weil sie sonst den ganzen Winter nicht würde hinausgehen können». Ohne Probleme geht es allerdings nicht: Sie machen Fehler, bekommen Streit, aber sie bleiben dran.

Bezug zur Pädagogik Korczaks

Mit dieser Passage in Wladek greift Korczak wiederum eines seiner Lebensthemen auf: Die Vision einer Gemeinschaft von Kindern und Jugendlichen, die sich selbst organisiert und eigenständig Verantwortung für sich und andere übernimmt.  Für die Pädagogik heisst dies, «…die leitende Idee vor Augen (zu) haben: dem Kind zur Selbständigkeit verhelfen, ihm immer wieder neue Möglichkeiten zu eröffnen, Eigeninitiative zu zeigen.» Die im Dom Sierot und Nasz Domentwickelten und über Jahrzehnte praktizierten demokratischen Settings stehen ganz im Zeichen dieser Übergabe von Verantwortung an die Kinder: In der Vollversammlung haben sie das Recht, sich einzubringen und angehört zu werden; das Kindergericht (Kinder urteilen über «Vergehen» ihrer Kameradinnen und Kameraden) sorgt für Gerechtigkeit, auch wenn – oder gerade weil? –  die meisten Paragraphen des «Gesetzbuches» verzeihend sind; im Kinderparlament werden Anliegen und Ideen der Kinder diskutiert und in konkrete Beschlüsse umgesetzt; im Selbstverwaltungsrat diskutieren Kinder und Erwachsene grundlegende Fragen zur Führung der Institution und formulieren Anträge an den pädagogischen Rat .

Dabei verfallen Korczak, Wilczyńska und Falska aber keineswegs einem welt- oder kinderfremden Idealismus. In der Realität des Waisenhauses ist ihnen klar, dass die Kinder nicht von selber auf die Idee kommen, ein Kindergericht oder ein Parlament zu gründen. Auch in der alltäglichen Durchführung dieser Settings bekommen die Kinder Unterstützung – so tagt z.Bsp. das Kindergericht meist unter dem Vorsitz von Stefania Wilczyńska, und das «Gesetzbuch» stammte ursprünglich von Korczak. Ist der Rahmen aber einmal gesetzt, geben Korczak, Wilczyńska und Falska den Kindern und Jugendlichen weitgehende Kompetenzen, gerade hinsichtlich dem Entwickeln von Regeln des Zusammenlebens.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass in der Pädagogik von Korczak, Wilczyńska und Falska die vertikale («von oben nach unten» -) Beziehung  Erzieher_in – Kind zurücktritt, zugunsten der horizontalen Beziehung unter den Kindern: Kinder erziehen sich gegenseitig. «Das System Korczaks kennzeichnete nicht die Parole: ,Wir erziehen’, sondern vielmehr: ‚Wir erziehen uns gegenseitig’.» Dazu noch deutlicher die Aussage Korczaks: «Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses wurde – das Kind.»

Bezug zur Traumapädagogik

Das Trauma führt immer zu Gefühlen von Ohnmacht und Passivität: Die natürlichen,  eigenaktiven Reaktionen auf eine Bedrohung reichen nicht mehr aus, um diese abzuwehren. Das dominierende Gefühl lautet: «Ich bin ausgeliefert.» Dies droht in der Folge zu einem permanenten passiven Lebensmuster zu werden. Dem begegnen wir in der Traumapädagogik mit dem Konzept der Selbstbemächtigung (Wilma Weiss): Kinder und Jugendliche werden darin unterstützt, das Steuer ihres Lebens wieder selbst in die Hand zu nehmen, «den Stier bei den Hörnern zu packen».

Unterstützung auf dem Weg zur Selbstbemächtigung könnte durchaus als Überschrift sowohl über die Pädagogik Korczaks als auch über die Traumapädagogik gesetzt werden: Traumatisierte Kinder werden nicht als hilflose, passive Opfer angesehen, die von uns umsorgt werden müssen – sie sind Menschen, die selber die besten Experten für ihr Leben sind und eigenaktiv für das Gelingen ihres Lebens kämpfen können.

«Unsere Abu» – die Kraft haltgebender Gemeinschaft

Wladek ärgert sich oft über Abu, die kleinste Schwester. Als aber in der Zeit der grössten Not ein kinderloses Ehepaar anbietet, sie als Pflegekind zu übernehmen, ist er entrüstet: Das ist «unsere Abu!», wir gehören zusammen und wir kämpfen gemeinsam! Schliesslich bleibt Abu in der Familie, und alle helfen mit, sie zu betreuen.

Wladeks Eltern setzen zu keinen pädagogischen Höhenflügen an. Sie sind hauptsächlich hart am arbeiten und sprechen wenig untereinander und mit den Kindern. Aber sie tun ihr Bestes, um die Familie irgendwie durchzubringen. Auch wenn der Vater eines Abends völlig entmutigt ist und nur noch schwarz sieht,  steht er am nächsten Tag frühmorgens wieder auf und macht sich an seine schlecht bezahlte Arbeit. Jeder trägt seinen Teil dazu bei, dass die Familie überlebt. So arbeitet Wladek für einen Hungerlohn in einer Seifenfabrik. Korczak schildert keine besonders emotionalen, schon gar keine romantischen Beziehungen in Wladeks Familie; die Beziehungen sind aber geprägt durch gegenseitige Achtung und ein bedingungsloses Zueinander-Stehen. Dadurch wird die Familie trotz aller äusseren Not und erzieherischen Unvollkommenheit der Eltern zu einem sicheren Ort.

Bezug zur Pädagogik Korczaks

Auch wenn es den Begriff oder gar ein Konzept zum «sicheren Ort» zur Zeit Korczaks noch nicht gab, war es doch ein grundlegendes Ziel der Pädagogik im Dom Sierotund im Nasz Dom, den Kindern Sicherheit und ein Zuhause zu vermitteln.  Viele ehemalige «Korczak-Kinder» bestätigen dies, zum Beispiel:  «I remember the orphanage as being warm, loving, and understanding, a place where I could discover myself and take roots in a nurturing climate and firm ground.» Es war angenehm, in diesem Haus zu leben.» – «Wir sprachen tatsächlich nicht vom ‚Waisenhaus`, sondern von unserem ‚Zuhause`.»  «Obwohl es ein Waisenhaus mit 120 Zöglingen war, wurde uns eine mustergültige Erziehung zuteil. Wir haben Korczak alle als Menschen verlassen.»

Dies wird auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln umgesetzt:

  • Kinderrechte: Die von Korczak entwickelten Kinderrechte verleihen dem Kind das Gefühl, durch und durch ernst genommen zu werden. Ausgehend vom grundlegenden Recht des Kindes, geliebt zu werden und dem Recht auf Achtung und angenommen zu werden wie es ist, ist es eine Reihe von einzelnen Rechten, die das Kind schützen und seine Grundbedürfnisse absichern: Das Recht, angehört zu werden, sich gegen Unrecht zu wehren, sich erzieherischen Einflüssen zu widersetzen (!), Fehler machen zu dürfen, das Recht auf Eigentum u.a. Eine Gemeinschaft, in der diese Rechte hochgehalten und gelebt werden, wird zu einem sicheren Ort für alle Beteiligten.
  • Demokratische Settings: Bei den von Korczak, Wilczyńska und Falska entwickelten demokratischen Settings geht es ganz wesentlich um den Aufbau von Eigenverantwortung. Sie vermitteln dadurch aber auch Sicherheit: Stärkung der Eigenverantwortung bedeutet immer auch Stärkung der Gemeinschaft und der Persönlichkeit.
  • «Fröhliche Pädagogik»: Eine dritte Säule, die das Dom Sierot und das Nasz Dom zu einem sicheren Ort macht, liegt mehr im emotionalen Bereich.  In den beiden Häusern herrschte ein frohes, entspanntes Klima, unterstützt durch Spiel und Sport, Theateraufführungen, Musik, Geschichtenerzählen, Humor im Alltag u.a. Dies ist an sich bereits ein wichtiger Wert in der Pädagogik, trägt aber auch ganz wesentlich dazu bei, dass sich die Kinder sicher und zuhause fühlen.

Bezug zur Traumapädagogik

Das Konzept des sicheren Ortes, Mitbestimmung und Selbstverantwortung, Spass und Freude gehören zu den Grundelementen der Traumapädagogik. Es ist interessant und spannend zu sehen, dass und wie Korczak dies schon vor rund hundert Jahren umgesetzt hat – offenbar mit grossem Erfolg. Zudem könnte durchaus überlegt werden, ob man sich durch die demokratischen Settings und durch die Kinderrechte Korczaks inspirieren lassen könnte, passend für die jeweilige Institution etwas Ähnliches zu entwickeln – Pädagoginnen und Pädagogen und Kinder/Jugendliche gemeinsam!

«Ein berühmter Arzt werden» – die Kraft hoch gesteckter Ziele

Wladek und Olek sprechen darüber, was sie einmal werden wollen. Für Wladek ist klar: er will ein berühmter Arzt werden. Olek, dessen Flair im Militärischen liegt, will ein grosser Heerführer werden. Ziele, die nicht gerade auf der Hand liegen,  wenn man sich die Lebenssituation der Beiden vor Augen führt. Sie erreichen ihre Ziele zwar nur teilweise: Wladek wird Krankenpfleger, Olek Gewerkschaftsführer. Die hoch gesteckten Ziele geben ihnen aber Kraft und Mut, den «Weg nach oben» anzupacken und trotz  scheinbar unüberwindbarer Hindernisse, Rückschlägen und Augenblicken der Resignation weiter zu kämpfen.

Bezug zur Pädagogik Korczaks

Mit dem «Recht des Kindes auf den heutigen Tag» tritt Korczak der damals (und heute?) verbreiteten pädagogischen Vorstellung entgegen, das Kind hauptsächlich als einen «zukünftigen Erwachsenen» zu sehen und damit das Kind «…der Knechtschaft der Zukunft (zu) überantworten.» Das Kind hat das Recht auf ein glückliches «Hier und Heute», auf eine frohe Kindheit, ohne ständig an «morgen“ denken zu müssen. Das heisst aber nicht, dass er das Setzen von Zielen für die Zukunft vernachlässigt hätte. Im Gegenteil – Korczak hat die Kinder und Jugendlichen immer wieder ermutigt, sich hohe Ziele zu stecken und diese «hartnäckig» zu verfolgen  (s. o.: «Ein hartnäckiger Junge»): «Der Wunschtraum ist ein Lebensprogramm.»

Er hat sich selber und seinem pädagogischen Programm hohe Ziele gesteckt: «Wem unser Programm zu erhaben erscheint, der soll daran denken, dass man stark aufsteigen und hoch empor fliegen muss – um dann langsam sinkend dennoch viel Weg zurückzulegen.» Das kann wohl auch auf Kinder und Jugendliche übertragen werden: Hohe Ziele beflügeln, machen Mut, verleihen Selbstwert, trauen dem Kind etwas zu. Und wenn sie auch nicht 1:1 erreicht werden, verleihen sie die Kraft, um «dennoch viel Weg zurückzulegen». So haben viele Kinder während ihres Aufenthaltes im Dom Sierot und Nasz Domihre Lebensberufung gefunden: Zum Beispiel Itzchak Belfer als Kunstmaler oder Shlomo Nadel als Photograph. Korczak beschliesst die Erzählung Wladek mit einem Aufruf an die Kinder: «Kinder, habt hohe Ziele, grosse Träume und strebt nach Ruhm. – Irgend etwas wird immer daraus».

Bezug zur Traumapädagogik

Traumatisierte Kinder träumen nicht mehr von grossen Lebenszielen. Gewalterfahrungen und Vernachlässigung haben sie gewissermassen in den Überlebensmodus versetzt: das alles dominierende «Ziel» liegt nur noch darin, weitere Traumatisierungen zu vermeiden. Der Lebenshorizont ist oft extrem eingeschränkt. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass diese traumabedingten Einschränkungen durchbrochen werden: durch Vorbilder in ihrer Lebenswelt oder in Geschichten und Filmen, Ermutigung durch Mitmenschen u.a. Und wenn sie dabei «aufsteigen und hoch empor fliegen», sollten wir dies als Pädagoginnen und Pädagogen ernst nehmen und diesen Plänen mit Achtung begegnen. Oft sind wir allzu sehr darauf bedacht, aus Angst vor dem Scheitern ja keine zu hohen Ziele zu stecken. Wie, wenn wir aber einfach mal hoffen und darauf vertrauen, dass das Kind, der Jugendliche zwar im Lauf der Zeit in Bezug auf die hohen Ziele  «langsam sinken» wird, dabei aber trotzdem einen guten Weg in eine gute Richtung zurücklegt?  Wie Wladek wird der Junge dann vielleicht kein «berühmter Arzt», sondern Krankenpfleger in einem kleinen Regionalspital – und ist glücklich dabei. Oder vielleicht eben doch berühmter Arzt? Lassen wir uns überraschen, was alles in den Kindern steckt!

Im Sinne Korczaks müssen wir hohe Ziele von Kindern und Jugendlichen unbedingt unterstützen, gerade auch in der Traumapädagogik – ohne dabei das «Recht auf den heutigen Tag» zu vergessen! Unterstützen wir die Kinder und Jugendlichen darin, eine Vision für das eigene Leben zu entwickeln; eine hoffnungsvolle, mutige «Zukunftsgeschichte» zu schreiben, eine Art persönliches Protestschreiben gegen alles Destruktive im bisherigen Leben; «...sich als jemanden zu entdecken, der den Widerstand der vorgegebenen Lage brechen kann.»

[i] Kurz, Wolfram: Philosophie für helfende Berufe. Verlag für Lebenskunst, Tübingen 2005. S. 87-92

[ii] In der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen hat sich das Konzept persönliche Zukunftsplanung bewährt. Dieses beginnt mit dem Träumen von hohen Zielen und endet oft im Erreichen von Zielen, die sich anfangs niemand zu erhoffen gewagt hätte.  Dieses Konzept lässt sich sicher auch in die Traumapädagogik übertragen. Einige Autoren und Organisationen: Stefan Doose, Carolin Emrich, Tobias Zahn, www.persoenliche-zukunftsplanung.eu, www.winklusion.ch

Die Bibliothekarin und der Unternehmer – die Kraft mutiger Unterstützung durch Erwachsene

Die Erwachsenenwelt macht in Korczaks Kindergeschichten im Grossen und Ganzen keine gute Figur. Die Erwachsenen verstehen Kinder nicht, nehmen sie nicht ernst und haben keine Zeit für sie. Es gibt aber immer auch Ausnahmen, so auch in Wladek: Da ist z.Bsp. die Bibliothekarin, die Wladek kostenlos Bücher ausleiht, weil er den geforderten Betrag nicht bezahlen kann. Oder der Unternehmer, der Wladek und Olek in eine Berufsschule einschreibt, obwohl er das eigentlich gar nicht dürfte, weil die beiden nicht in seinem Betrieb arbeiten. Oder die Eltern, die Wladek trotz aller materieller und erzieherischer Defizite ein sicheres Zuhause ermöglichen. Ohne diese tatkräftige Unterstützung wäre ihr Weg nach oben nicht möglich. Diese Erwachsenen zeigen zudem, was Wertschätzung und Ernstnehmen der Kinder und Jugendlichen konkret bedeuten können.

Bezug zur Pädagogik Korczaks

«Ein Kind lieben» – so der Titel seines pädagogischen Hauptwerkes – heisst für Korczak vor allem: Das Kind ernst nehmen und wertschätzen, ihm zu seinen Rechten verhelfen, und ihm ganz konkret die Unterstützung geben, die es wirklich braucht. Dabei dürfen auch mal unkonventionelle Wege jenseits der gutbürgerlichen Normen beschritten werden. Dass die Bibliothekarin und der Unternehmer dabei ihre Kompetenzen und die Grenzen der Legalität überschreiten, hat Korczak wohl mit Absicht und schalkhaftem Schmunzeln in die Geschichte eingeflochten. Manchmal braucht es Zivilcourage, wenn wir uns entschlossen für Kinder engagieren, gerade in der Sozialpädagogik. Korczak hat sich mit seiner Pädagogik nicht nur Freunde geschaffen.

Bezug zur Traumapädagogik

Bei allem Genialen, das in der Traumapädagogik bisher entwickelt worden ist, müssen wir aufpassen, dass wir vor lauter «Pädagogik» nicht vergessen: Was braucht «dieses Kind – hier und heute – konkret – von uns?» Das entspricht manchmal nicht genau dem, wie es im Lehrbuch steht, oder gar nicht im Lehrbuch stehen kann, weil jedes Kind, jede Situation, jede Institution doch wieder ganz anders ist. Vielleicht gehört es sogar zum professionellen Arbeiten, auch mal das professionelle 08-15-Schema zu verlassen? Nach Korczak ist ohnehin diejenige Erziehungsmethode die beste, die wir selber herausgefunden haben. Selbst unermüdlicher Bücherschreiber, schreibt er selbstkritisch über das Lehrbuch: «Das Buch mit seinen fertigen Formeln hat den Blick abgestumpft und das Denken träge gemacht. Von den Erfahrungen, Beobachtungen und Ansichten anderer lebend, ist das Vertrauen zu sich selbst so sehr verloren gegangen, dass man nicht mehr aus eigener Perspektive sehen will.»

«Ein tüchtiger Kerl bist du»  – die Kraft positiver Lebenshaltungen

Korczak stattet Wladek und Olek mit Charakterstärken aus, die notwendig sind, damit sie «ihr Leben meistern».  Die beiden Jungen zeichnen sich insbesondere aus durch…

Hartnäckigkeit –  beharrlich verfolgen sie ihr Ziel durch alle Schwierigkeiten hindurch.

Mut – sie schlagen sich bis ins Büro des Unternehmers durch, bei dem sie dafür kämpfen, dass er sie für die Berufsschule einschreibt.

Optimismus«berühmter Arzt, Oberbefehlshaber – Wir schaffen es!»

Selbständigkeit und Selbstvertrauen – die wichtigsten Lebensentscheidungen treffen sie ohne Hilfe von Erwachsenen.

Zuverlässigkeit – Wladek versperrt als Krankenpfleger einem hohen Beamten und dem Chefarzt den Weg in den Operationssaal, weil er dem Chirurgen versprochen hat, niemanden hinein zu lassen. Zuerst empört, gestehen sie ihm schliesslich zu: «Ein tüchtiger Kerl bist du, du verstehst deinen Dienst».

… mitmenschliche Güte – zeigt sich u.a. in der liebevollen Fürsorge Wladeks für die jüngeren Geschwister und die gehörlose Michalinka.

Engagement für Gerechtigkeit – die «Ritter der Ehre» kämpfen in ihrer kleinen Welt für soziale Gerechtigkeit. Kindern aus ärmsten Verhältnissen schenken sie Spielsachen, Michalinka bekommt einen Wintermantel (s.o.).

Bezug zur Pädagogik Korczaks

Die Pädagogik im Dom Sierot und im Nasz Dom ist  auch eine ausgesprochene Wertepädagogik: All diese Charakterstärken widerspiegeln die zentralen Werte der Pädagogik Korczaks. Besonders herausgegriffen sei hier der Wert «Gerechtigkeit», der das Leben und die Pädagogik Korczaks wie ein roter Faden durchzieht. Dabei hat «Gerechtigkeit» bei Korczak wenig zu tun mit der römischen Justitia – in der einen Hand die Waage und in der andern das Schwert – sondern viel mehr mit der in der jüdischen Tradition verankerten «liebenden Gerechtigkeit»: den Menschen, den Kindern aus einer liebenden Haltung zu ihrem Recht verhelfen.  Auch wenn der moralische Anspruch an die Kinder hoch ist, wirkt er bei Korczak nie erdrückend, denn: «Fehler machen ist erlaubt,» und die meisten Paragraphen des Kindergerichts sind verzeihend.

Bezug zur Traumapädagogik

Die erwähnten Stärken von Wladek gehören zu den zentralen Faktoren, welche die Resilienzforschung herausgearbeitet hat: je ausgeprägter diese in einem Menschen entwickelt sind, umso widerstandsfähiger ist dieser gegenüber belastenden Einflüssen. So gehört es zu den Grundanliegen der Traumapädagogik, diese aufzubauen und zu stärken. Gerade der zuletzt hervorgehobene Wert der Gerechtigkeit hat für das traumatisierte Kind eine existenzielle Bedeutung: Durch Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch, Kriegserfahrungen u.a. hat es Ungerechtigkeit in höchstem Ausmass erlebt, und es gehört zur zentralen Aufgabe der Traumapädagogik, ihm liebende Gerechtigkeit zukommen zu lassen.

Es genügt aber nicht, sich «nur» mit dem Kind zu befassen und diesem eine gute Entwicklung zu ermöglichen. Es geht stets auch darum, das Unrecht, das den Kindern angetan wird, auch beim Namen zu nennen und für eine Welt zu kämpfen, in der es Traumapädagogik einmal nicht mehr brauchen wird.

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