Höhere Fachschule für Sozialpädagogik

Salutogenese

«Und, wie liefs in der Schule?» fragt die Mutter, worauf ihr Kind antwortet: «Die Hauptsache ist doch, dass wir alle gesund sind.» In diesem altbekannten Witz lenkt das Kind die Mutter ab und weist auf die Hauptsache hin: unsere Gesundheit.

Datum
7. Juni 2021

von Christian Pekari, Dozent HF

Was ist Gesundheit?

Was aber ist Gesundheit? Wie definieren wir Gesundheit? Wie empfinden wir Gesundheit?

Die Medizin definierte – und definiert z.T. auch heute noch – Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit und Störung. Das kann ich subjektiv so bestätigen. Ich sage: «Ich bin gesund» und meine damit: «Ich bin nicht krank, ich fühle keinen Schmerz, keine Störung.» Eigentlich lebe ich nach dem Prinzip: «Gesundheit ist mein angestrebter Normalzustand» oder vereinfacht ausgedrückt: «Gesundheit ist normal und Krankheit stört einfach!»

Entweder… oder…!

Vielleicht ein spezieller Ansatz, er entspricht aber in etwa einem der Hauptansätze in der Geschichte der Medizin und unseres Gesundheitssystems, nämlich der Pathogenese. Diese beschreibt den Entstehungsprozess und den Verlauf einer Erkrankung und impliziert die Annahme, dass je präziser die Entstehung der Krankheit verstanden wird, desto wirksamer kann die Störung wieder behoben werden und wir sind wieder gesund.
Gesundheit und Krankheit werden als entgegengesetzte Begriffe betrachtet: der Mensch ist entweder gesund oder er ist krank.

Was ist Salutogenese?

In den 1980er Jahren hat sich der israelisch-amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky mit der Frage beschäftigt, warum Menschen eigentlich gesund bleiben, z.T. trotz gewaltiger körperlicher und seelischer Herausforderungen. Wie gelingt es Menschen, sich von Krankheiten zu erholen? Wie werden Menschen mehr gesund und weniger krank? So suchte er Erklärungen für Gesundheit jenseits des Musters der Risikovermeidung. Antonovsky prägte den Ausdruck der Salutogenese – der Gesundheitsentstehung – als komplementären Begriff zur Pathogenese.

Sowohl… als auch…!

Er hat versucht die Gegensätzlichkeit von Gesundheit und Krankheit aufzulösen. Der Mensch sei nicht entweder krank oder gesund, sondern sowohl krank als auch gesund oder wenn wir krank und gesund als zwei Pole betrachten, so sind die Menschen irgendwo zwischen beiden Polen anzusiedeln.

Die Frage ist also, wie können kranke Anteile gemindert und gesunde geweckt werden.

Das Leben als Fluss

Antonovsky hat sich zum Verständnis der Patho- bzw. Salutogenese einer Metapher bedient: das Leben als Fluss und die Menschen als Schwimmende. Im Flussverlauf treten immer wieder potenzielle Gefahren auf, Verschmutzungen, treibendes Schwemmholz, wechselnde Fliessgeschwindigkeiten, Abbiegungen, Stromschnellen, Strudel…

Die Schwimmenden aus diesem Fluss retten

Die Rolle der Medizin in diesem Bild besteht darin, die Schwimmenden aus dem Fluss zu ziehen, wenn sie in Gefahr geraten und zu ertrinken drohen. So wird die Störung behoben und die Schwimmenden können in den Fluss zurückkehren. Wenn wieder Gefahren auftauchen, haben sie aber nicht gelernt, besser zu schwimmen. Die Salutogenese beschäftigt sich genau mit dieser Frage: wie können Menschen bessere Schwimmerinnen und Schwimmer werden, damit sie lernen, besser mit den Bedingungen des Flusses umzugehen?

Wo setzen wir unseren Fokus?

Irgendwie merke ich, dass sich mein Fokus ändert. Wenn in meinem Denken gesund sein der normale und angestrebte Zustand ist, ist Gesundheit nichts Besonderes, weil normal. Und wir gewöhnen uns an das, was normal ist. Gesundheit wird mir erst dann bewusst, wenn ich krank bin, wenn eine Störung auftritt, die ich so schnell wie möglich wieder loswerden will.
Wenn ich aber irgendwo zwischen den Polen gesund und krank bin, ein bisschen gesund und ein bisschen krank, dann bieten sich mir neue Chancen:

  • die Chance, Gesundheit als Gesundheit wahrzunehmen – und nicht nur als Abwesenheit einer Störung
  • die Chance, dankbar zu werden, für alles, was mehr gesund und weniger krank ist
  • die Chance, Verantwortung zu übernehmen
  • die Chance, mir die Frage zu stellen, was mir eigentlich gut tut

Ein ermutigender Ansatz

Da kommt mir das Gedicht von William Henley in den Sinn, bei dem im Alter von zwölf Jahren Knochentuberkulose diagnostiziert wurde und der sich gegen die Amputation seines Beines gewehrt hatte. Ein Gedicht über Chancen trotz Krankheit und Alltagsherausforderungen, es endet mit folgendem Gedanken:

Ich bin der Meister meines Los’.
Ich bin der Käpt’n meiner Seel.

Fazit

Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft der Salutogenese: die Überzeugung, dass ich als Mensch geeignete Ressourcen zu Hand habe, um etwas zu bewirken, zu verändern, dass ich als Mensch Widerstandsressourcen generieren kann, dass ich als Mensch Gestalterin und Gestalter meines Lebens bin.