Höhere Fachschule für Sozialpädagogik

Sekundäre Traumatisierung

Im Zusammenhang mit der Traumapädagogik stehen oft die schwierigen Lebenserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Fokus. Diese schwierigen und traumatisierenden Lebenserfahrungen haben aber nicht nur Einfluss auf die Lebensbewältigung der Kinder und Jugendlichen, sondern auch auf jene Personen und Teams, welche diese begleiten.

Datum
13. Dezember 2021

Belastungen für Pädagogen und Pädagoginnen

Die Sekundäre Traumatisierung ist eine Belastung, die durch das Wissen über ein traumatisches Ereignis, das einer anderen Person widerfahren ist, ausgelöst wird (Definition Figley). Das heisst, Menschen können traumatisiert werden, ohne dass sie selbst bedroht oder verletzt werden. Die sekundäre Traumatisierung ist ein umfassender Begriff für verschiedene Vorgänge, in denen Helfer von traumatisierten Menschen psychische Symptome entwickeln.

Das Anhören von traumatischen Erlebnissen oder das Mitfühlen mit Opfern traumatischer Erfahrungen kann zu ähnlichen Reaktionen wie beim direkt betroffenen Opfer selbst führen.

Dr. Samuel Pfeifer

Wie wirkt sekundäre Traumatisierung?

Traumatisierende Lebensereignisse prägen langfristig den einzelnen betroffenen Menschen, wirken in familiäre und andere soziale Beziehungen hinein, mischen Institutionen auf, verbreiten Stress, Gefühle der Unsicherheit und Leid. Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet, wird durch eine immer wiederkehrende sekundäre Traumaexposition einer hohen Belastung ausgesetzt.

Pädagogen und Pädagoginnen werden durch Berichte, Akten, eventuell Bilder oder sogar Narben von diesen extremen Erfahrungen überflutet, ohne eigentlich selbst Zeuge der Gewalttat gewesen zu sein.

Nicht direkt sichtbar, dennoch spürbar

Zu dem Gehörten, Gelesenen und Gesehenen kommt auch die Konfrontation mit den individuellen Reaktionen der Klienten dazu. Die direkte Traumatisierung von Fachkräften stellt ein bekanntes Risiko dar, zum Beispiel durch Grenzverletzungen oder der Beobachtung von solchen. Bei der sekundären Traumatisierung geht es aber um die schleichenden Folgen von Trauma und Gewalt – nicht direkt sichtbar, dennoch verunsichernd und spürbar.
Figley geht davon aus, dass insbesondere durch Empathie mit traumatisierten Menschen und durch die Exposition mit den berichteten extremen Erfahrungen eine Verfassung bei den Pädagogen bewirkt werden kann, die als Mitgefühlserschöpfung bezeichnet wird. Solche Belastungsreaktionen, welche denen der posttraumatischen Belastungsstörungen ähneln, zeigen sich sowohl in der individuellen Lebensbewältigung als auch auf verschiedenen Systemebenen.

Erklärungsansätze für die Belastungsreaktionen

Die Psychoanalyse schreibt der Gegenübertragung eine hohe Bedeutung für die Entwicklung von Überforderungssituationen zu. Ein unerlässliches Instrument in der Pädagogik ist die Einfühlung und die Fähigkeit, sich auf Beziehung einzulassen – dies fordert von den Pädagoginnen und Pädagogen, die Geschichte des Opfers zu verstehen. Dabei werden Gefühle wie Ohnmacht, Angst und Verwirrung (Gefühle des traumatisierten Gegenübers) ebenfalls erlebt. Eine mögliche Folge ist, dass Pädagogen und Pädagoginnen ebenfalls handlungsunfähig, resigniert, depressiv und erschöpft reagieren.

Die kognitive Psychologie (Maria Pia Andreatta) sagt, dass die berufliche Begegnung mit existenziellem Leid fundamentale Annahmen über die Welt beeinflusst. Studien zeigen auf, dass es bei Menschen in Kriseninterventionen zu deutlichen Abnahmen des Glaubens an das Wohlwollen der Welt und der Menschen kam.

Aus systemischer Sicht bleiben Folgen von Traumata nicht auf den einzelnen Menschen beschränkt. Sie zeigen sich auf allen Systemebenen und wirken aufeinander ein (zum Beispiel auf das ganze Team).

Sekundäre Traumatisierung ist kein Zeichen mangelnder Professionalität, sondern ein Resultat ausgeprägter Empathiefähigkeit. Sie ist eine normale Reaktion auf unnormale Informationen.

Risikofaktoren der sekundären Traumatisierung

  • Die Helfenden sind durch die sekundäre Traumaexposition insbesondere dann psychisch stark belastet, wenn die individuellen Bewältigungsstrategien über längere Zeit nicht ausreichend sind. Die Auswirkung der traumatischen Ereignisse des Gegenübers auf den Helfer hängen auch von der emotionalen Reaktion und der Wahrnehmung der betroffenen Person ab.
  • Wenn durch die Erzählung Angst, Hilflosigkeit und Entsetzen erlebt wird.
  • Eigene primäre Traumatisierung, psychische Erkrankung, geringes Einkommens- und Bildungsniveau (SöS), weibliches Geschlecht, Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung, mangelnde soziale Anerkennung der Person/des Berufsstandes.

Schutzfaktoren der sekundären Traumatisierung

  • Sich über die sekundäre traumatische Erfahrung mit anderen austauschen können, soziale Anerkennung und soziale Unterstützung, berufsspezifische adäquate Vorbereitung, Begleitung und Nachbearbeitung von belastenden «Einsätzen» sowie Bezugspersonenarbeit gehören zu den gesundheitsfördernden Faktoren.
  • Ein Gefühl für die eigene Autonomie während der Exposition scheint eine schützende Funktion zu haben.

Das Sekundärtrauma verursacht Stress und Einschränkung in der individuellen Lebensbewältigung, in Beziehungen wie auch bei der pädagogischen Arbeit.

Mögliche Symptome beim Sekundärtrauma

  • Vermehrte Konflikte am Arbeitsplatz
  • Krankheitsbedingte Abwesenheit
  • Mangelnde Einfühlung in die Kinder/Jugendlichen
  • Ständige Anspannung
  • Verminderte Fähigkeit, soziale Unterstützung einzufordern
  • Schlechte Bewältigung von Stress

Traumaprozesse zeigen aber nicht nur Auswirkungen auf einzelne Mitarbeiter, sondern können sich auf ganze Teams auswirken.

Auswirkungen aufs Team

  • Disempowerment (Entmutigung, Schwächung): Einzelne Mitarbeiter geraten an die Grenzen ihres eigenen Selbstwirksamkeitserlebens. Irritation, Hilflosigkeit oder Wut hindern sie daran, ihre Rolle im Team auszufüllen.
  • Zersplitterung, Lähmung oder Desorganisation lassen Teams handlungsunfähig werden.
  • Es kann eine Haltung von Misstrauen und Rückzug innerhalb des Teams entstehen.
  • Es kann zur allgemeinen Abwertung anderer Teammitglieder führen, sowie zur Verweigerung von Supervision oder Zurückhalten von eigenen Reaktionen, weil man sich schämt.

Prävention - was kann man tun?

Um das Risiko einer Sekundären Traumatisierung zu verringern, kann eine regelmässige Überprüfung der Belastung mit sekundärtraumatischen Symptomen einer Chronifizierung vorbeugen. Eine traumasensible Organisationsstruktur und eine traumasensible Kultur der Selbstsorge können präventiv auf sekundäre Traumatisierungen und deren Folgen auf die pädagogische Arbeit wirken.

Literatur

  • Wilma Weiss, Tanja Kessler, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2016
  • Seidler Günter H., Freyberger Harald J., Maercker Andreas (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie, Klett-Cotta, Stuttgart 2015
  • Rauwald M., Vererbte Wunden, Beltz-Verlag, Weinheim-Basel 2013
  • Dr. Samuel Pfeifer: Stress und Burnout verstehen und bewältigen, Sonnhalde 2008

Weiterführende Links